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@fuzzykiller
Created July 2, 2011 16:02
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Die dubiosen Verstrickungen von Wiki-Watch: Hier prüft der Staatsbürger das Insulin noch persönlich

Hier prüft der Staatsbürger das Insulin noch persönlich

Las sich der Wikipedia-Eintrag zu einem Medikament nicht gerade noch ganz anders? Änderungen im Sinne der Pharmaindustrie rücken das wissenschaftliche Projekt „Wiki-Watch“ ins Zwielicht.


Weltweit nutzen Schüler und Studenten heute das Online-Lexikon Wikipedia bei Hausaufgaben und Seminararbeiten. Auch hierzulande verschaffen sich Hunderttausende täglich Rat. Aber ein Lexikon, das im Internet öffentlich und gemeinsam von den Nutzern erstellt und verbessert wird, hat seine Tücken. Erfahrene Wikipedia-Autoren kämpfen an vielen Stellen gegen inhaltlichen Vandalismus, plumpen Unsinn und strategisch plazierte Informationskampagnen. In Frankfurt an der Oder wurde ein Projekt ins Leben gerufen, dass Transparenz über die Qualität der Artikel schaffen will.

Mit statistischen Mitteln wird bewertet, wie gut ein einzelner Eintrag bei Wikipedia ist. Wiki-Watch soll Transparenz über die Qualität der Einträge herstellen. Die Forscher firmieren unter der Adresse des PR-Unternehmers Wolfgang Stock, ehemaliger Politikredakteur dieser Zeitung, der das Unternehmen zusammen mit Rechtsanwalt Johannes Weberling leitet. Wiki-Watch weist sich aus als „Arbeitsstelle im Studien- und Forschungsschwerpunkt ,Medienrecht‘ der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)“.

Wie groß ist die „Arbeitsstelle“, die immerhin die wissenschaftliche Beobachtung der gesamten Wikipedia verspricht? Nach Auskunft von Rechtsanwalt Weberling sind in der Arbeitsstelle „insgesamt drei Personen tätig“: er selbst, Stock sowie ein Student der Rechtswissenschaft. Keiner der etatmäßigen Professoren der Juristischen Fakultät der Viadrina ist Mitglied der Arbeitsstelle. Weberling, der in Berlin eine auf Presserecht spezialisierte Kanzlei betreibt, ist Honorarprofessor. Stock begrüßt die Besucher der Internetseite der Arbeitsstelle ebenfalls als Professor – er verdankt seinen Professorentitel der Gustav-Siewerth-Akademie, einer winzigen Privathochschule im Dunstkreis des katholischen Traditionalismus.

Seit Herbst 2010 kann man auf www.wiki-watch.de jeden Wikipedia-Artikel plus Zusatzinformationen einsehen: Sechs Sterne versprechen einen zuverlässigen Artikel. Da es auch in der Realität nur selten Hotels mit so vielen Sternen gibt, sind fünf schon ein Garant für gute Informationen. Doch wer kontrolliert die selbst ernannten Kontrolleure? Denn es gibt deutliche Anzeichen, dass sowohl der Leiter Stock wie auch einige freiwillige Helfer des Projekts selbst Einträge bearbeiten, bevor sie bewertet werden. Wie auf diese Weise eine neutrale Bewertung vorgenommen werden kann, bleibt fraglich.

Während eines Vortrags vor dem Wirtschaftszirkel des Cartellverbands der katholischen deutschen Studentenverbidnung in Düsseldorf hält Stock Ende 2010 in seiner Funktion als geschäftsführender Gesellschafter der PR-Firma Convincet GmbH einen Vortrag zum Thema „Krisenprävention und Soziale Medien“. Soziale Medien sind Angebote im Internet, bei denen die Nutzer selbst die Inhalte erstellen, wie Blogs, Fotoportale oder eben Wikipedia. Der Referent bringt ein reales Beispiel, um sein Wissen über professionelle Kommunikation zu erläutern: Die Sanofi-Aventis-Aktie verzeichnete 2009 infolge der öffentlich bezweifelten Wirksamkeit eines neuartigen künstlichen Insulin-Präparats einen Kursrückgang. Der Hintergrund: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hatte in der April-Ausgabe einer Fachzeitschrift auf möglicherweise bestehende Krebsrisiken hingewiesen. Am 14. April 2009 wird bei Wikipedia ein neuer Artikel im Themenfeld Medizin erstellt.

Dieser Eintrag erhält den Titel „Insulin Glargin“, das ist künstliches Insulin, das aus gentechnisch veränderten Proteinen hergestellt wird. Insuline sind ein Milliardengeschäft, solange die Kassen die Medikamente erstatten. Wikipedia verfügt über eine eigene Medizin-Redaktion mit erfahrenen Fachleuten und beobachtet in diesem Sommer viele Auffälligkeiten rund um Insulinartikel, die in engem Zusammenhang mit Nutzerkonten stehen, die damals dem Haushalt Stocks und heute dem Projekt Wiki-Watch zugeordnet werden. Eines der Konten gehört dem Nutzer Wsto. Vier Jahre zuvor hatte Wolfgang Stock sich selbst als Wikipedia-Nutzer Wsto identifiziert. Seit dem 8. Oktober 2010 heißt das Benutzerkonto Wsto aber Kan900.

In einem elfseitigen Dossier wird von Wikipedia-Nutzern anhand von Indizien der Schluss nahegelegt, dass es sich bei den Konten (Wsto/Kan900, K.atarina.w und Dr. Dibelius) sehr wahrscheinlich um ein und denselben Nutzer handelt.

Wer seinem Wort Gewicht verleihen will, besorgt sich mehrere Konten, die dieselbe Meinung vertreten. Im Internet werden sie als „Sockenpuppen“ bezeichnet. Stock erklärt: „Ich lebe in einem Haushalt, in dem sich bis zu acht verschiedene, erwachsene Personen eine dynamische IP teilen. Es ist gut möglich, dass wir früher mit Accounts auf verschiedenen Laptops eingeloggt blieben und nicht bei jedem Edit immer der tatsächliche Editor angemeldet wurde.“ Stock habe auch einmal unabsichtlich über das Nutzerkonto namens K.atarina.w einer Bekannten dort mitdiskutiert. Offenbar interessierte sich dieser große Haushalt damals sehr für Insulin und die Wikipedia-Profile von Sanofi-Aventis und dessen Vorstandsvorsitzendem.

So verwundert es nicht, dass der Eintrag Sanofi-Aventis, Hersteller des unter dem Handelsnamen Lantus in Deutschland erhältlichen, neuartigen Insulins, mehrfach in firmenfreundlicher Richtung optimiert wurde. Er gilt mittlerweile als einer der am besten bewachten Artikel der deutschen Wikipedia. Einer der Nutzer, die dort editieren, ist Wsto/Kan900. Am selben Tag, als der neue Artikel zum Insulin Glargin erstellt wird, erweitert er das Profil des Pharmariesen um einen positiven Hinweis auf die besonders lange Wirkungsdauer des künstlichen Insulins unter dem Handelsnamen Lantus. Auch über Chris Viehbacher, den Vorstandsvorsitzenden von Sanofi-Aventis, wird ebenfalls im April 2009 ein Wikipedia-Artikel erstellt. Der Nutzer Investor, der beide Artikel bei Wikipedia einstellte, gab ein Jahr später die Ergebnisse einer offiziellen Wiki-Watch-Umfrage bekannt.

Nun kommt das IQWIG ins Spiel. Dieses Institut wird von den Krankenkassen finanziert und prüft neue Arzneimittel – auch daraufhin, ob eine Erstattung der Kosten sinnvoll sei. Es war der Pharmaindustrie wegen seiner kritischen Haltung lange ein Dorn im Auge. Das Institut hatte mit dem Angstbegriff „Krebsrisiko“ Zweifel an der Harmlosigkeit des künstlichen Insulins von Sanofi-Aventis in der Zeitschrift „Diabetologia“ angemeldet. Dieser Verdacht ist bis heute umstritten. Eine fehlende Kassenerstattung hätte Einbußen in Milliardenhöhe bedeutet.

Als der Wikipedia-Nutzer Wsto/Kan900 im April 2009 den Artikel Sanofi-Aventis bearbeitet, erweitert er auch den Eintrag des IQWIG-Instituts um einen ganzen Abschnitt mit der Überschrift „Kritik“, ohne dabei Quellen anzugeben. Auch der Eintrag zum damaligen Leiter des IQWIG, Peter Sawicki, wird von ebendiesem Nutzer am selben Tag um einen Abschnitt „Kritik“ erweitert. Stock begründet seine Beiträge zum Themenkomplex mit seiner aktiven Haltung als Staatsbürger, er wollte Argumente in die politische Diskussion einbringen, die seinerzeit eine erhebliche Rolle gespielt hätten.

Das Projekt Wiki-Watch hat bei einigen Artikeln in beide Richtungen gearbeitet: Artikel werden erstellt oder bearbeitet, und später wird die Güte der Autoren und Quellen statistisch ausgewertet. Denn der Wikipedia-Nutzer namens Investor, der den heftig diskutierten Artikel „Insulin Glargin“ sowie den Eintrag zu Chris Viehbacher im Online-Lexikon erstmals anlegte, war derselbe, der die Ergebnisse einer Umfrage der Wikipedia-Administratoren in das System der Wikipedia einstellte. Dies war eine offizielle Umfrage des Wiki-Watch-Projekts an der Viadrina-Universität.

Es bedarf einer speziellen Auffassung von Forschung, um die Qualität der Einträge bei Wikipedia eigenhändig zu optimieren und im selben Projekt die Güte der Artikel statistisch zu bewerten. Tatsächlich läuft eine modifizierte Auswertungssoftware der University of Santa Cruz auf den Webservern von wiki-watch.de, die die eigentliche Arbeit des Projekts leistet. Transparenz stellen sich die um Neutralität bemühten Helfer bei Wikipedia anders vor. Ein anonym publiziertes elfseitiges Dossier weist Stock die umfangreichen Editiervorgänge rund um das künstliche Insulin nach. Auffällig ist vor allem, dass er vorher und nachher diesen Themenkomplex nicht bearbeitet hat. Er kritisiert, dass dieses Dossier keinem realen Namen zuzuordnen sei. Als ein Wikipedia-Nutzer Stock im Februar 2011 auf den Kontext zwischen dem Vortrag über „Krisenprävention und Soziale Medien“ sowie den Editiervorgängen von Wiki-Watch im Pharmaumfeld hinweist, verschwinden zwei Tage später aus dem offiziellen PDF-Dokument der Vortragspräsentation ein paar Seiten.

Leider ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn es geht bei derart „professionellen“ Wikipedia-Bearbeitungen nicht nur um Artikel über Firmen und Produkte, auch eine rigide Weltanschauung kann das Neutralitätsgebot der freien Enzyklopädie behindern.

Viele Nutzer aus religiösen, strenggläubigen Kreisen bearbeiten seit Bestehen von Wikipedia die Artikel von evangelikalen Organisationen. In diesen Gruppierungen wirken auch Kräfte mit, welche homosexuelle Jugendliche von ihrer Neigung „heilen“ wollen, obwohl schon die Annahme einer Therapie von Homosexualität in der internationalen Sexualwissenschaft als unwissenschaftlich gilt. Das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft, für das Wolfgang Stock bis vor kurzer Zeit noch im Wissenschaftlichen Beirat saß, ist so eine Institution. So ist auch in diesem thematischen Zusammenhang ein offizielles Nutzerkonto des Forschungsprojekts Wiki-Watch aufgefallen. Dazu die Wikimedia Deutschland e.V.: „Ein Check-User-Verfahren soll der Überprüfung dienen, ob ein angemeldeter Wikipedia-Benutzer unter verschiedenen Benutzer-Account-Namen aktiv war oder ist. Zusätzliche Nutzerkonten werden von einigen Hauptbenutzern nur angelegt, um eigene Standpunkte als Mehrheitsmeinung darzustellen. Im Ergebnis legten die im Check-User-Verfahren ausgewerteten Daten nahe, dass der Benutzer des Accountnamens ,Diskriminierung‘ in dem relevanten Themenfeld mit weiteren Accounts aktiv war. Des Weiteren ergab sich als Ergebnis die nicht fernliegende Möglichkeit, dass der Inhaber des Benutzernamens ,Diskriminierung‘ auch unter dem Benutzernamen ,Wiki-watch-de‘ editiert hat.“

Weberling räumt in seiner Stellungnahme ein, dass dieser Nutzer Zugang zum Benutzerkonto wiki-watch.de hatte – in der Folge sei ein Vier-Augen-Prinzip beim Bearbeiten von Artikeln eingeführt worden. Pikant ist dabei, dass dieser Nutzer bei den sensiblen Artikeln, die schon seit Jahren besonders hart von strenggläubigen Christen beeinflusst werden, einige umstrittene Editiervorgänge vornahm und heftige Diskussionen auslöste, teilweise mit kruden evangelikalen Stellungnahmen. Offenbar waren hier aber nicht mehr Wolfgang Stocks Familienmitglieder involviert. Denn die Wiki-Watch zugeschriebenen Nutzerkonten hatten über eine exotische Anonymisierungssoftware Zugang zu Wikipedia. Verschleierungstaktiken bei einem akademischen Projekt? Eine Vorbildfunktion für Offenheit und Transparenz beim Thema freies Wissen im Netz stellen sich die Eltern und Lehrer, die Wikipedia empfehlen, sicherlich anders vor.

Beim Demokratie-Kongress 2010 der Konrad-Adenauer-Stiftung erklärt Stock laut dem Bildungswerk der Stiftung in einer Grundsatzrede einen denkwürdigen Vorgang: Inzwischen seien wir „im virtuellen Raum hauptsächlich von Monopolen umgeben“. Stock klärt hinsichtlich der Dominanz von Internet-Angeboten wie Wikipedia, Google, Facebook oder Amazon deren Motive auf: Geld verdienen, Daten sammeln, teilweise auch das Denken ihrer User beeinflussen – Objektivität und harte Fakten blieben dabei allerdings auf der Strecke. Dass Wikipedia auf Spendengelder angewiesen ist, war dem langjährigen Wikipedia-Profi offenbar kurzzeitig entfallen.

Offenbar gelangt das, was Stock unter harten Fakten versteht, über eine „zuverlässige“ Öffentlichkeitsarbeit in die sperrigen Sozialen Medien des Internetzeitalters, um dort die politische Diskussion zu erweitern. Dann wird es vom universitären Forschungsprojekt nach neutralen Kriterien der Transparenz bewertet, ohne dass der Besucher von www.wiki-watch.de erfährt, welche Beiträge von Stock oder den Helfern eigenhändig optimiert wurden und welche Motive sie dazu getrieben haben. Innovative, nicht-staatliche Projekte wie Wikipedia, die die Öffentlichkeit als Nutzer wie auch als engagierte Autoren einbeziehen, sind jedoch auf echte Transparenz angewiesen.

Rechtsanwalt Weberling wies gegenüber dieser Zeitung auf die „Besonderheit des Studien- und Forschungsschwerpunkts Medienrecht“ hin, „dass er seit seiner Gründung ausschließlich drittmittelfinanziert ist, zu seiner Finanzierung also keine Etatmittel der Universität verwendet werden“. Angaben zu den Drittmittelgebern für die Arbeitsstelle Wiki-Watch wollten deren Leiter nicht machen. jörg wittkewitz

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